Beim Vergleich der Arbeitsorganisation von Konzernen mit Agenturen lassen sich richtungsweisende Erkenntnisse ziehen. Die Arbeitswelt ist im Wandel und ich finde zum Guten. Beruflich hatte ich das Glück, sowohl in einem Dax-Konzern als auch auf Dienstleisterseite zu arbeiten. Beide Modelle haben ihre Stärken, aber im Agenturmodell steht der Mensch aus meiner Sicht weiter vorne. Eine Feldbeobachtung:
1. „Pünktlichkeit“ ist kein Maßstab
Die meisten Leser dieses Beitrages werden das Gefühl kennen, wenn der Chef einen beim zu spät ins Büro kommen erwischt. Ich bin mit festen Arbeitszeiten im Konzern sozialisiert worden. Viele meiner damaligen Kollegen nutzen bis heute die elektronische Zeiterfassung. Gestern traf ich in der Tiefgarage auf einen Saatchi & Saatchi-Kollegen, der sich für sein spätes Erscheinen entschuldigte. Die Ironie dabei ist, dass ich ebenfalls spät ins Büro gekommen war (musste meinen Kindern die Sportsachen hinterherfahren). Woher kommt also der Irrglaube, dass Arbeitszeiterfüllung eine Bewertungsgrundlage für gute oder weniger gute Mitarbeit darstellt? Ich glaube, dass dies ein Relikt aus der arbeitsteiligen Industrie ist, wo Hand in Hand gearbeitet wurde und klare Ressourcenplanung unumgänglich war? Doch diese Regeln gelten zumindest in der Ideenbranche und in innovativen Umfeldern aus meiner Sicht nicht mehr.
Der Maßstab für Leistung ist nicht die Arbeitszeit, sondern die Güte des Arbeitsergebnisses.
2. „Präsenz“ macht keine gute Idee
Neben Arbeitszeiten ist der Büro-unabhängige Arbeitsort für mich eine weitere Errungenschaft. Wenn uns die Mobilfunkkonzerne predigen, dass ein Smartphone das Büro in der Hosentasche sei, warum sehen wir dann immer noch so wenig Homeoffice-Arbeit? Das Bundesarbeitsministerium bestätigt, dass nur ein Drittel der deutschen Unternehmen ihren Mitarbeitern ermöglicht, außerhalb ihrer Büroräume arbeiten zu können. Dabei zeigt dieselbe Studie, dass Loyalität, Zufriedenheit und Vorgesetztenbewertung erheblich steigen, wenn z.B. das Homeoffice genutzt werden darf. Henkel-Vorstand Kasper Rorsted machte Ende 2015 mit großem Medienecho Stimmung gegen die Präsenzkultur und betonte, dass es ihm egal sei, wo seine Mitarbeiter arbeiten. Bosch ging einen Schritt weiter und regelte Heimarbeit sogar in einer eigenen Betriebsvereinbarung.
Die besten Ideen entstehen nicht am Arbeitsplatz.
3. Kinder und Hunde machen produktiver
In Agenturen sind Kinder im Büro keine Seltenheit. Kürzlich saß ich in einer Kollegenrunde und wir grübelten über ein Kundenproblem. Plötzlich klatschte ein Kleinkind unaufhaltsam an die Büroscheibe und wollte Teil der Gruppe werden. Die scheinbar unpassende Unterbrechung stellte sich als Glücksfall heraus, weil das Kind die Stimmung in der Gruppe auf ein persönliches, unverkrampftes Niveau hob. Die Diskussion floss im Nachhinein zielstrebiger und der kleine Mann wurde mit YouTube ruhiggestellt. Natürlich ist der Arbeitsplatz kein Kindergarten. Aber man begegnet den Kollegen mit anderen Augen, wenn man gemeinsam einen kleinen Quälgeist gebändigt hat.
Ein Agenturhund senkt den Blutdruck
4. Raucherpausen haben etwas Gutes
Schon lange habe ich das Rauchlaster hinter mir gelassen. Ich habe jedoch festgestellt, dass in Agenturen Raucher im Vorteil sind. Täglich ziehen sie an meinem Büro vorbei auf ihrem Weg zur Zigarettenpause. Genau an solchen Berührungspunkten jenseits des Schreibtisches entsteht die Arbeitsgemeinschaft – ja „Gemeinschaft“. Die Interaktion schafft neue Perspektiven, schafft Vertrauen, bereitet Unternehmenskultur und schlussendlich Loyalität. Eine gesündere Oase zur Kulturbildung sind die agentureigenen Kickertische, Agenturküchen oder der Stammtisch (bei uns das „Donnerstagsbier“).
Kultur braucht Raum
5. Symbole schaffen Orientierung
Agenturen beschäftigen sich naturgemäß mit Marken, deren Positionierung und ihren Schlüsselsignalen. Daher ist es auch nicht erstaunlich, dass Werbeagenturen gute Beispiele bieten, wie die eigenen Signale von den Mitarbeitern getragen und geteilt werden. Bei Saatchi & Saatchi glauben wir daran, dass quasi jedes Geschäftsproblem mit einer „Idee“ zu lösen ist. Wir zelebrieren unseren Markenkern „Nothing is Impossible“ nicht nur in Kundenpräsentationen, sondern auch sichtbar für uns alle in den Agenturräumen.
Identität braucht Symbole
In jeder Filiale liegt jedes Jahr ein Buch für alle sichtbar aus, in dem die besten Arbeiten unseres Netzwerkes gekürt werden (Foto aus dem Düsseldorfer Büro). Im letzten Jahr blieben einige Seiten leer, um dem höchsten Anspruch Ausdruck zu verleihen, den wir an Ideen stellen. Die prämierten und abgedruckten Arbeiten sind uns allen Orientierung und natürlich Ansporn. In StartUps finden Besucher häufig ein und dasselbe Symbol vor. Es ist die StartUp-Glocke. Jeder Mitarbeiter darf sie läuten, um einen gemeinsamen Erfolg anzuzeigen. Meistens sind es Likes, Neukunden- oder Zufriedenheitswerte, die Anlass zum Läuten bieten. Mit jeder gellenden Unterbrechung wird der gemeinsame Erfolg und die gemeinsame Zielerreichung im Arbeitsalltag transparenter und erlebbarer. Was können Konzerne nun davon lernen? Sicherlich, dass die traditionellen Symbole aus den Finanzabteilungen wie „ROCE“ oder „EVA“ für die meisten Mitarbeiter überhaupt keine Bedeutung haben. Bei meinem alten Arbeitgeber T-Systems verordnete mein CFO-Kollege, dass ich „ROCE“ und „EVA“ lieben soll. Bis heute muss ich auf „KPI für Dummies“ verweisen, um diese beiden Symbole des gemeinsamen Erfolges zu erklären. Industrieunternehmen verpassen noch zu häufig, kulturprägende Signale zu senden, die Identifikation und Bindungsfähigkeit fördern.
Fazit:
Natürlich steht das Agenturmodell unter Druck, und wahrscheinlich arbeite ich in der Branche, die unter den größten strukturellen Veränderungen überhaupt steht. Aber genau deshalb besinnt sie sich auf das, worauf es wirklich ankommt: den Menschen. Unternehmen haben keine Ideen – es sind die Menschen (vgl. auch Kevin Roberts). In meiner persönlichen Bestandsaufnahme fällt auf, dass die meisten Unternehmen noch zu sehr in traditionellen Strukturen gefangen sind.
Wer Menschen motivieren und bewegen will, muss sie berühren.
Dieser Beitrag ist am 26. Januar 2016 erstmals auf meinem LinkedIn Influencer Blog erschienen.